Elf Lektionen über das Schreiben
- Elisabeth Helena Knetsch
- 3. Sept. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu hospitieren, war für mich wie ein Sprung ins kalte Wasser. Beim Versuch zu schwimmen, lernte ich nicht nur, mich an der Wasseroberfläche zu halten, sondern versuchte auch, etwas von der Kunst des Schwimmens zu verstehen. Die wichtigsten Lektionen, die ich in diesen eineinhalb Monaten gelernt habe, fasse ich hier zusammen, als wären sie an einem Tag geschehen.

Als ich am Morgen aus der S-Bahnstation nach draußen trat, trielte Platzregen vom Himmel, durchfeuchtete die Luft und schwemmte Dreck aus allen Ecken auf die Straße. Frankfurt war noch grauer, als ich es in Erinnerung hatte. Ich war dankbar für meinen Regenschirm, und dennoch nach meinem zehnminütigen Spaziergang durchs Gallus völlig durchnässt. Beim FAZ-Tower angekommen, ging ich, bevor ich abgeholt wurde, ins Badezimmer und versuchte herzurichten, was von meinen feuchten Haaren und Kleidern noch zu retten war. Im Spiegel sah ich mir an, wie aufgeregt ich war. Noch nie zuvor hatte ich für eine bekannte Zeitung geschrieben und in einer professionellen Redaktion gearbeitet. Ich fühlte mich unbeholfen und unerfahren, und erwartete, dass ich während meiner Hospitanz im Feuilleton einer der bekanntesten deutschen Zeitungen allenfalls Hintergründe recherchieren, Texte redigieren und Redakteurinnen und Redakteuren zuarbeiten würde.
Doch ich wurde überrascht. Nachdem eine der Sekretärinnen mich abgeholt, mir die Räumlichkeiten gezeigt und mich den Redaktionsmitgliedern vorgestellt hatte, sah sie mir in die Augen und gab mir meine erste Lektion: „Sei proaktiv und schreib‘, so viel du kannst.“ Ich war verblüfft: Eigene Texte zu verfassen war zwar, was zu tun ich mir gewünscht, jedoch nicht erwartet hatte. Es fühlte sich an, wie ein Sprung ins kalte Wasser. Doch ich entschied, ihn zu wagen und zu versuchen, ohne Vorbereitung schwimmen zu lernen.
Als ich begann, Ideen zu sammeln, kam mir in den Sinn, dass ich seit dem 7. Oktober und dem Ausbruch des Kriegs in Israel und Gaza war ich schon zwei Mal in Israel gewesen war. Ich hatte seitdem das Bedürfnis, darüber zu schreiben, und bot deshalb einem Redakteur an, für das Reiseblatt von meinen Erfahrungen und der gegenwärtigen Realität in Israel zu berichten. Er genehmigte meinen Vorschlag, und ich verbrachte den Rest des Vormittags mit Schreiben: von meinen Erfahrungen und Beobachtungen vor Ort, vom Alltag und Gemütszustand der Menschen, von der Atmosphäre des Landes. Ohne es zu bemerken, schrieb mich um Kopf und Kragen. Nicht nur hatte ich mir mit diesem Text ein zu umfassendes Projekt aufgehalst. Ich gefährdete, indem ich für diesen Text stark auf persönliche Beobachtungen und Kontakte zurückgriff, auch meine journalistische Unabhängigkeit, die Menschen, über die ich schrieb und meine persönlichen Beziehungen zu ihnen. So lernte ich meine zweite Lektion, als mir klar wurde, dass man Journalismus nicht mit Privatleben vermischen und die Menschen, die einem wichtig sind, nicht zu den Subjekten seiner Studien machen sollte.
Um zehn Uhr unterbrach ich das Schreiben und versammelte mich mit den anderen Redakteurinnen und Redakteuren an dem mit Zeitungen übersäten Tisch in der Mitte der Redaktion. Die tägliche Sitzung stand an, in der nicht nur organisatorische Hinweise weitergegeben und das Blatt des folgenden Tages geplant wurden, sondern auch nicht selten inhaltlich diskutiert wurde. Manchmal ging es dabei ziemlich zur Sache: Die Redakteurinnen und Redakteure sind sehr bewandert auf ihrem Gebiet. Wenn sie schrieben und reden, tun sie es aus voller Überzeugung. Und wenn sie aneinandergerieten, konnten sie, die zumeist sehr besonnen, manchmal sogar grüblerisch waren, ungewohnt laut und leidenschaftlich werden. Hier lernte ich meine dritte Lektion von der Notwendigkeit, wie einer der Redakteure es formulierte, „hart zur Sache“ zu schreiben und zu reden. Doch nicht selten war ich auch von der Fundiertheit, Überzeugungskraft und Härte der Argumente eingeschüchtert und hatte ich das Gefühl, zu diesen Debatten nichts Bedeutendes beitragen zu können. Weil aber eine der Sekretärinnen mir zuvor den Rat gegeben hatten, die Stimmungen und Debatten in der Redaktion mit etwas Humor zu nehmen, überwand ich mich dank meiner vierten Lektion manchmal, auch in der großen Runde meine Stimme zu erheben.
Als die Redaktionssitzung zu Ende war, feilte ich weiter an Inhalt und Stil meines Reiseberichts. Es war beinahe Mittag, als ich meinen Entwurf endlich dem Redakteur zum Lesen übergab und er seine Rückmeldung gab: Der Text sei kein Reiseartikel, er beantworte nicht die für die Leserschaft des Reiseblatts relevanten Fragen. Stattdessen erinnere er eher an ein politisches Essay. Ich war niedergeschlagen, doch lernte durch die Ablehnung meines ersten Texts zwei weitere Lektionen, die schon seit der Schulzeit hätten klar sein sollen: Schreib‘ nicht an der Aufgabenstellung vorbei und ließ, anders kannst du das Schreiben nicht lernen. Ich versuchte, meinen Text zu überarbeiten, ihn mehr mit den Regeln und dem Stil des Reisejournalismus in Einklang zu bringen. Ich erhielt eine weitere Ablehnung. Ich hatte bisher nur einen Versuch gestartet, Schwimmen zu lernen – und war an Ort und Stelle verharrt. Weil war schon fast Mittag war, entschied ich mich, meine Strategie zu ändern. So lernte ich meine sechste Lektion: Lass dich nicht von perfektionistischen Ansprüchen und unrealistischen Projekten zurückhalten.

Nach dem Mittagessen wandte ich mich deshalb kleineren Projekten zu. Endlich lernte ich mehr darüber, was ich tun, anstatt was ich vermeiden sollte. In meinem ersten veröffentlichten Text rezensierte ich den Film „Tantura“, der von der (fehlenden) israelischen Erinnerungskultur in Israel bezüglich der Nakba handelt. Darin beschreibe ich auch, wie sich die Verdrängung palästinensischen Leids sich nicht nur wie ein roter Faden durch die israelische Geschichtsschreibung zieht, sondern sich auch sich in der Gegenwart weiterspinnt. Mit diesem Text lernte ich meine siebte Lektion, dass es möglich ist, über das zu schreiben, was mir wichtig ist, jedoch innerhalb des von Aufgabe und Ressort vorgegebenen Rahmen.
Mein nächster Text war ein Porträt des israelischen Saxophonisten Oded Tzur, in dem ich nicht nur sein neues Album besprach, sondern auch die Bedeutung seiner Musik inmitten des Kriegs in Nahost thematisierte. Weil sich meine Arbeit an diesem Text in mehrere Phasen untergliederte - Recherche, Interview und Schreibprozess - lernte ich hier meine achte Lektion, nie unbegründete Annahmen zu machen oder eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, auf denen später mein Text basiert - insbesondere, wenn er von einer anderen Person handelt.

Der Himmel hatte sich etwas aufgeklart. Die Nachmittagssonne zog meine Co-Hospitantin Selma und mich nach draußen. Im Café im Erdgeschoss holten wir uns unseren obligatorischen Milchkaffee und Plausch von dem sympathischen Barista ab, und setzten uns in die Sonne auf der Dachterrasse. Selma und ich gaben uns nicht nur gegenseitig Motivation und Feedback für unsere Texte, sondern teilten auch unsere Misserfolge, Errungenschaften und den Gossip in der Redaktion miteinander. Ohne sie wäre ich um einige Lacher und eine Freundin ärmer, sondern hätte außerdem die Lektionen, die ihrer etwas bitteren Erfahrung entstammen, nicht gelernt: Speicher‘ deine Texte (zwischen) und schreib‘ deine Titel selbst.
Als ich von der Pause zurück in die Redaktion kam, stand die Sonne schon tief am Himmel. Noch immer hatte ich einige Projekte, die unabgeschlossen oder in der Überarbeitung sind. Meine Zweifel kamen wieder: Schrieb ich überhaupt schnell und gut genug? Hatte ich überhaupt die Befugnis und die Expertise, Themen politisch zu kommentieren? Verdiente ich es, hier zu sein? Während ich grübelte, klopfte einer der Redakteure, dessen Rückmeldung noch ausstand, an meine Bürotür und setzte sich. Er gab er mir Anerkennung dafür, dass ich mich bei den Redaktionssitzungen zu Wort gemeldet hatte und lobte, dass ich in meinen Texten auf mehr als nur auf den puren Inhalt etwa von Filmen und Musik eingehe: Kunst stehe immer in Wechselwirkung mit ihrem zeitgeschichtlichen und politischen Kontext. Er sagte, dass mein Schreiben Substanz hat, auch, wenn es ihm manchmal noch an der korrekten Darstellung mangelt. Doch die könne man erlernen, sagte er. Das zentrale, das Potential sei gegeben. Seine Worte sind lehrten mich meine elfte und letzte Lektion dieses Tages: Verändere deinen Stil nicht für andere, sondern nur für dich selbst. Manche schätzen dich genau dafür.
Als ich den FAZ-Tower verlasse, scheint die Abendsonne in mein Gesicht. Ich bin zufrieden: Ich weiß, nach dieser kurzen Zeit im Wasser bin ich noch keine Spitzenschwimmerin. Aber ich habe elf wichtige Lektionen gelernt, meine Leidenschaft und mein Potential erkannt. Nun ist es an der Zeit, zu üben, bis ich mich beim Schreiben eines Tages ganz in meinem Element fühlen kann.
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