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Ohne Skript

  • Autorenbild: Elisabeth Helena Knetsch
    Elisabeth Helena Knetsch
  • 26. Apr. 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Ein Zwischenbericht


Ich mag es, wenn ich schon bevor ich einen Text beginne, sein Ende kenne. Es gibt mir die Klarheit und Sicherheit, zu wissen, wo ich stehe und nächsten Satz ich schreiben muss. Es gibt mir die Distanz zu bewerten, welcher Satz notwendig und welcher überflüssig ist. Und es gibt mir die Macht, die Geschichte so zu schreiben, wie ich es will. Ich mag diese vollkommenen Geschichten mit einem klaren Anfang, einem eindeutigen Ende und einem stimmigen Skript. Doch wie das Leben sind sie nicht.

 

Immer wieder ertappe ich mich bei dem Versuch, mein Leben in Geschichten zu untergliedern. Ich selektiere die Erfahrungen der Vergangenheit, die ich erzählen will und mache Pläne für die Zukunft. Ich versuche, meinem Leben Klarheit und Sinn zu geben, doch es lehnt sich dagegen auf. Ein Zwischenbericht ist deshalb das Einzige, was ich schreiben kann.

 

Gäbe es eine Haupthandlung

 

Im letzten September bin ich nach Amsterdam gezogen, um hier mein Studium „Politics, Psychology, Law and Economics“ (PPLE) zu beginnen. Auch wenn das Studium mich manchmal herausfordert (und manchmal auch ich das Studium) bin ich insgesamt wirklich zufrieden. PPLE stellt die für mich relevanten Fragen nach den Gründen und Auswirkungen gesellschaftlicher Phänomene und geht sie auf eine Weise an, die mir sinnvoll erscheint.

 

Die Multidisziplinarität von PPLE ist für mich einer der großen Vorteile des Studiums. Ich beschäftige mich nicht nur mit verschiedensten Inhalten, von politischer Philosophie bis zu psychologischen Prinzipien, sondern erwerbe auch viele Fähigkeiten, wie Rhetorik und Statistik. So lerne ich, die Denksysteme und Methoden unterschiedlicher Disziplinen anzuwenden, zu vergleichen und kritisch zu evaluieren.

 

Doch die Breite des Studiums auch Nachteile: Die Kurse, die ich bisher belegt habe, boten zwar Einführungen in die jeweiligen Disziplinen, konnten die Themen jedoch nicht vertiefen. Ich hoffe, dass ich in den kommenden Semestern und nach der Wahl meines Hauptfachs die Möglichkeit habe, mein Wissen in einem Gebiet auszubauen. Derzeit plane ich, mich auf Politik zu spezialisieren.



Gäbe es eine Nebenhandlung

 

In meiner bisherigen Zeit in Amsterdam habe ich gelernt, dass Ankommen ein Prozess ist, der Zeit braucht. Anfangs fühlte ich mich oft überfordert, sowohl in meinem Studiengang als auch in „Room for Discussion“, einer studentischen Interviewplattform, die mehrfach im Monat Interviews mit Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ausrichtet, und deren Teil ich seit November bin. Für längere Zeit fühlte ich mich wie ein Fremdkörper inmitten der fremden Menschen neuen Arbeitsabläufen, die mich umgaben.

 

Es brauchte Zeit, bis die Menschen um mich herum und ich uns gegenseitig kennenlernten und ich meinen Platz fand. Auch waren (und sind) meine Bemühungen, Gesprächspartner zu gewinnen und Co-Interviewerin zu werden oft vergeblich. Dennoch konnte ich doch zusammen mit meinen Co-Interviewer*innen, die ich nun auch Freund*innen nenne, bereits zwei Podiumsdiskussionen moderieren habe am Montag mein erstes Interview geführt. Ankommen ist ein Prozess, der nie endet. Doch die vergangenen Monate haben mir gezeigt, von welch großer Bedeutung er ist.


 

Gäbe es eine Zäsur


Seit der Krieg zwischen Israel und Hamas begann, hat sich viel verändert. Ich habe gelitten, auch wenn ich weiß, dass mein Leid verglichen mit dem, was viele Menschen in Israel und Gaza erleben, nichts ist. Der Krieg dort trifft mich einerseits direkt wegen meinen Beziehungen dorthin. Die Familie meines Freunds ist seit sechs Monaten evakuiert und lebt in einem Hotelzimmer, das ungefähr so groß ist wie meine Studentinnenwohnung. Die palästinensische Familie, die ich kenne, lebt seit sechs Monaten in einer Geräuschkulisse von Raketenbeschuss. Es ist unerlässlich und auf seltsame Weise tröstlich für mich, mit Menschen zu sprechen und die Gefühle von Perspektiv- und Machtlosigkeit zu teilen. Ich hoffe, dass diese Gespräche auch für sie in irgendeiner Weise wertvoll sind.

 

Der Krieg trifft mich andererseits aber auch indirekt, durch die Wellen, die er in Europa schlägt. An meiner Universität herrscht zu dem Thema eine schreiende Stille. Immer wieder schreien mich Demonstrationszüge, Toilettentüren und Posts auf Social Media an, doch ernsthaft spricht fast niemand über den Krieg und seine Bedeutung. Vereinfachungen und Verurteilungen verhindern eine Diskussion. Ich bin dankbar für meine Familie in Deutschland und meine Freund*innen hier in Amsterdam, die in den Wellen des Hasses und der Polarisierung wie Inseln des Gesprächs, des Respekts und der Zwischentöne sind.

 

Schließlich belastet mich der Krieg wegen der Diskrepanz der Erfahrungen und der Berichterstattung zwischen Israel, Palästina und Europa. Israelische und palästinensische Betroffene und Menschen in Europa erleben so unterschiedliche Realitäten, dass sie, selbst wenn sie miteinander kommunizieren wollen, oft aneinander vorbeireden. Viele (teils heftige) Diskussionen mit meinem Freund waren nötig, bis ich realisierte, dass dieser Krieg Bedeutungen für ihn hat, die ich nicht verstanden habe oder nicht verstehen kann. Viele Menschen in Israel leben in einer Realität, in der der Terrorangriff des 7. Oktober noch nachwirkt, in der Familienmitglieder im Krieg sind oder noch immer von Hamas als Geiseln gehalten werden. Debatten über Israels langfristige Ziele, palästinensische Autonomie und die Zwei-Staaten-Lösung sind wichtig und notwendig, doch sie verblassen angesichts dieser Realität. Ähnliches gilt für Menschen in Palästina.

 

Es wird Zeit brauchen, bis das Trauma von sowohl Palästinenser*innen als auch Israelis abklingt, und bis Fortschritt und vielleicht, irgendwann, Versöhnung möglich ist. Bis dahin, denke ich, täten Menschen in Europa gut daran, nicht unerbittlich Parolen skandieren, deren Bedeutung sie oft nicht verstehen. Stattdessen sollten wir den Mut und die Demut haben, einander zuzuhören und zuzugeben, nicht wir nicht alles verstehen können.

 

Gäbe es das Ende

 

In dieser Geschichte, wie in der Geschichte meines Lebens kenne ich weder den nächsten Schritt noch das Ende. Viele Entwicklungen sind weder klar noch kontrollierbar, viele machen keinen Sinn. Ich lebe mitten in einer Geschichte ohne Skript. Es ist oft schwer zu akzeptieren, dass meine Macht über mein Leben begrenzt ist.

 

Und manchmal ist es auch leicht. Während ich diese Worte schreibe, sitze ich am Kai, vor mir spannt sich prall die IJ. Ich beobachte die Menschen verlangsamen, während die untergehende Sonne die Wolken rot färbt und den Augenblick der Zeit losreißt. Warum streben wir nach einer vollkommenen Geschichte? Sind es nicht manchmal diese Augenblicke, die in ihrer Unvorhersehbarkeit und Bedeutungslosigkeit unermesslich wertvoll erscheinen?



(P.S.: Ich such ab Juli/August eine Wohnung/ein Zimmer in Amsterdam. Solltest Du eine Mitbewoherin oder Nachmieterin suchen, oder möglicherweise hilfreiche Kontakte haben, kontaktiere mich gern unter ehknetsch@gmail.com oder auf Instagram @elisabethknetsch.)



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