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Zulassen

  • Autorenbild: Elisabeth Helena Knetsch
    Elisabeth Helena Knetsch
  • 24. Juni 2024
  • 2 Min. Lesezeit

In den Fenstern in meinem linken Augenwinkel zieht die Welt vorbei. Sonnenlicht fällt durch den Waggon des Zuges. Auf der gegenüberliegenden Wand bildet es Schatten, sie streben nach vorn, kämpfen chancenlos gegen die Fahrtrichtung an. Auf dem Klapptisch vor mir: das Wasser einer Träne. Ich sage, ich hätte nichts gegen das Weinen. Bloß würde ich nicht mitten im Zug weinen wollen.


Ich dachte, ich hätte gelernt, ehrlich zu sein: meine Unsicherheiten anzunehmen und sie offen zu zeigen. Ich täuschte mich. Scheinbar zeige ich meine Verletzlichkeiten nur, wenn ich sie für bedeutungsvoll und bereits verarbeitet halte.


Über die Angst, die meine bisher erfolglose Wohnungssuche in mir hervorruft, spreche ich nicht gern. Auch nicht darüber, wie lähmend es sich anfühlt, ohne Fundament zu sein. Es scheint zu banal, um es mit irgendjemanden zu teilen. Ich spreche nicht gern über die ungesunden Verhaltensweisen, die mich, kaum bin ich mit Stress konfrontiert, überfallen, unbemerkt, gerade wenn ich meinte, sie überwunden zu haben. Der Kampf gegen sie scheint endlos, kein Ergebnis mitzuteilen.


Ich dachte, ich hätte gelernt, authentisch zu sein: meine Gefühle zu erleben und zu teilen. Ich täuschte mich. Scheinbar zeige nur die positiven, „nützlichen“ Emotionen und nur dann, wenn ich sie für gesellschaftlich erwünscht halte.


Als ich jünger war, hielt ich meine Emotionalität für eine meiner besten Eigenschaften, genoss sogar Sehnsucht und Traurigkeit. Mittlerweile versuche ich, sie unter Kontrolle zu halten. In meinem Umfeld der Universität werden Emotionen zwar nicht verleugnet, gefeiert aber auch nicht. Oft sehe ich meine Emotionalität nicht mehr als Anstrich, der meinem Leben Farbe und Tiefe verleiht, sondern als moorige Schicht, in der meine Füße stecken, meinem Fortkommen hinderlich.


Über die zwei Fristverlängerungen, um die ich bitten musste, um neben den Bildern des Kriegs in Gaza, der Eskalation im Norden Israels und den Spannungen an meiner Universität auch mit meinem Studium umzugehen, spreche ich nicht gern. Ich spreche nicht gern darüber, dass ich in den vergangenen Monaten oft hinter meinen eigenen Erwartungen zurückblieb, weil meine Emotionen den Raum und Zeit einnahmen, der sonst der Arbeit vorbehalten war. Oft verstand ich meine Emotionen als Vorwände, die mich vom Funktionieren abhalten. Und ich hasse dieses Verständnis.


Nun bin ich mitten im Zug – und weine. Ein Anruf, eine weitere Absage eines potentiellen lässt die zur Schau getragene Sicherheit und die auferlegte Rationalität in sich zusammenfallen. So sorgfältig ich versucht hatte, sie einzudämmen: Die Verletzlichkeit und Sensibilität brechen sich bahn. Die Gesellschaft will sie nicht haben, ich allein kann sie nicht tragen, und doch sind sie mein.


Draußen zieht die Welt, nun in Wolken, vorbei. Das Wasser meiner auf dem Klapptisch ist getrocknet. Die ganze Zugfahrt schon hat er neben mir gesessen, mich schreiben gelassen. Als er mich umarmt, atme ich tief den Duft über seiner Schulter. Er gibt mir nicht die die Antworten und Ratschläge, nach denen ich nie gefragt habe. Er gibt mir einen Raum, in dem die Realität, ihr Zwang und ihr Einfluss, außen vor scheint. Ich lasse es geschehen: Lasse mich von ihm umfangen, und ihn die Teile von mir tragen, die ich allein nicht tragen kann.


Abhängigkeit zuzulassen ist der einzige Weg, ich selbst zu sein.

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Zwischen den Welten
ist wo ich bleibe.

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